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Lüdenscheider Zeitbilder
 

1918-1923: Niederlage, Anfänge der Demokratie und Krisen

Bürgermeister: Dr. Wilhelm Jockusch

     Kriegs-, Schwerbeschädigte, Erwerbsunfähige
1919    683          195                21
1920    784          256                17
1921    848          233                13
1922    918          218                14

Keine Generation fügte sich und anderen so schweres Leid zu wie die Generation in der Zeit der beiden Weltkriege, die auch "Der Dreißigjährige Krieg des 20. Jahrhunderts" genannt wird. 1949 berichtete Frau Anna Wisbereit, Südstr. 31 im Alter von 63 Jahren dem Wiedergutmachungsausschuss in Lüdenscheid:

Foto: Zwei Strassen gabeln sich. An der Gabelung steht ein Haus: Eine Gastwirtschaft. Davor einige Männer.
Den heimkehrenden Soldaten wurden in der Novemberrevolution von den Soldatenräten vor Haus Hulda die militärischen Abzeichen von den Uniformen geschnitten. Damit entfernte man den Befehlsanspruch des Kaisers und der Generäle.

 

"Mein Ehemann Hugo Wisbereit, geb. am 20.3.1876 in Lüdenscheid, wurde im August 1918 durch Kopfschuß schwer verwundet. An den Folgen dieser Verwundung ist er am 9.9.1928 nach voraufgegangenem über 1 Jahrzehnt dauerndem Siechtum, welches von geistigen Störungen begleitet war, verstorben. Dieser Umstand, in Verbindung mit der Erkenntnis des namenlosen Elendes als notwendige Folge eines jeden Krieges, rief in mir ablehnende Gedanken gegen den Krieg überhaupt hervor. Da das damalige nationalsozialistische Regime meiner Meinung nach den Wehrgedanken der Nation ganz besonders und dadurch die Gefahr eines neuen Krieges direkt heraufbeschwor, trat bei mir ohne weiteres eine Abneigung gegen diese Regierung hervor. Aus den vorgetragenen Gründen heraus habe ich mich dann besonders im Verlauf des Krieges auf politische Diskussionen eingelassen und dabei meine ablehnende Stellung zur damaligen Regierung zum Ausdruck gebracht, die dann im April 1944 zu meiner Verurteilung auf (!) das Heimtückegesetz führte." (Sta Lüd B 41391)

Neben den Kriegsverletzungen forderte die Mangelkrankheit Tuberkulose auch nach dem Krieg 1918: 81, 1919: 72, 1921: 44, 1923: 47 Todesopfer. Aus Sorge um die Gesundheit der Lüdenscheider, die unter der tödlichen spanischen Grippe (weltweit mehr als 20 Mio. Tote) litten, wurde 1920 das Gesundheitsamt in der Altenaer Str. 7 eröffnet. Kurt Weill, der 1920 das die Musikkapelle des Theaters im Hotel zur Post leitete, schrieb an seinen Bruder Hans:

"Hier sterben so viele Leute, dass der Friedhof sie nicht fassen kann und die Gräber übereinander geschichtet werden. Soll denn der Krieg noch immer kein Ende haben? Und ist das nicht schlimmer als der Krieg?"

Aus diesen Gründen sank die Einwohnerzahl der Stadt von 34 259 (1914) auf 32 961 (1925).

Den größten Teil der Arbeit zu Beginn der Weimarer Republik mussten die Frauen leisten: die Pflege der Verletzten, die Sorgen der allein stehenden Witwen um ihre Halbwaisen und der Wechsel vom Arbeitszwang für die Produktion von Geschosshülsen im Krieg zum Küchenherd im Frieden, um den Kriegsheimkehrern die Lohnarbeit zu ermöglichen. Das endlich beschlossene Wahlrecht der Frauen war nur ein kleiner Trost für viele Verluste.

Am Tag der Novemberrevolution 9.11.1918 standen Mitglieder des Arbeiter- und Soldatenrates neben dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal vor dem Haus Hulda und schnitten vorbeiziehenden Soldaten die Schulterstücke mit den militärischen Rangabzeichen von den Uniformjacken ab, um das Ende der Kaiserzeit und des Militarismus zu verdeutlichen. Der Soldatenrat tagte in der Gaststätte Zapp. Er schickte eine Kommission in die Stadtverordnetenversammlung, um folgendes zu beantragen:

  • 1. Befreiung der politischen Gefangenen,
  • 2. Lebensmittelversorgung und Löhnung von Seiten der Stadt für alle Urlauber (d. h. Soldaten), die sich ohne Pass in Lüdenscheid aufhielten,
  • 3. Sorge für Ruhe und Ordnung durch Einrichtung eines Wachdienstes. Der Oberbürgermeister stimmte zu und stellte den wachhabenden Soldaten ein Zimmer im Rathaus zur Verfügung.
Das war nur von kurzer Dauer, denn im folgenden Jahr hieß es im Verwaltungsbericht:

"Das Inkrafttreten der Weimarer Verfassung (1919) bedeutete das Ende des (Arbeiter- und Soldaten-)Rätesystems und der Tätigkeit des Arbeiter- und Vollzugsrates".

Er hatte vorher noch umfangreiche Rüstungsbestände, die nach dem Versailler Verträgen an die Siegermächte ausgeliefert werden mussten, sichergestellt. Ein Teil der Kriegsausrüstung fiel in die Hände von Stahlhelm und SA.

Im Krieg hatte die deutsche Rüstungsindustrie Gewinnsteigerungen von mehr als 800 %. In Lüdenscheid waren die Gewerbesteuerzahlungen der Unternehmenan die Stadt von 1,2 Mio. RM (1914) auf 2,5 Mio. RM (1918) gestiegen. Der Kapitalgrundstock, viele Rohstoffe und modernisierte Maschinen, die zunehmend von Elektromotoren angetrieben wurden, halfen dabei, rasch von der Rüstungs- zur Friedensproduktion zu wechseln. Viele Lüdenscheider versuchten sich in diesen Jahren als "Kellerunternehmer", aber die meisten scheiterten und setzten ihr Berufsleben als Lohnarbeiter fort. Neben Halbfertigwaren stellte die Kleineisen- und Buntmetallindustrie Knöpfe, Schnallen, Orden, Abzeichen, Schrauben, Bestecke, Metallgeschirre und viele andere Artikel her. 1920 zählte die rasch aufblühende Stadt 46 Zigarrengeschäfte gegen 16 vor dem Krieg und 208 Lebensmittelgeschäfte gegen 82. Aber die Wirtschaftsblüte hatte ihre Schattenseite: Lüdenscheid war 1920 die teuerste Stadt im Rheinland und in Westfalen. Das wurde besonders wegen des Wohnungsmangels durch die hohen Mietkosten verursacht.

"Die meisten kriegsgetrauten Paare gründeten keinen eigenen Hausstand" (Verwaltungsbericht),

weil sie keine Wohnung finden konnten.

Unruhig wie das wirtschaftliche Leben war das politische. Gegensätze wurden heftig ausgetragen. Der Kapp-Putsch der Rechtsradikalen gegen die Weimarer Demokratie im Mai 1920 war hier bedeutungslos. Wegen der Ermordung des Ministers Matthias Erzberger, der für Deutschland den Friedensvertrag von Versailles unterzeichnete, protestierten hier 1921 die Parteien der Weimarer Koalition (Dt. Dem. Partei, SPD, Zentrum) gegen die Gewalt der Rechtsradikalen. Als diese 1922 den Außenminister Rathenau ermordet hatten, riefen die Demokraten zum Schutz der Weimarer Republik auf, entwendeten 30 schwarz-weiß-rote Fahnen, die viele Bürger für das Schützenfest auf gehängt hatten, und verbrannten die Fahnen des Deutschen Kaiserreichs auf dem Karlsplatz. Dagegen protestierten Konservative und Rechtsradikale. Zu ihnen zählte der Stahlhelm, der im April 1923 mit Hakenkreuzträgern an der Brenscheider Mühle Geländeübungen veranstaltete. Am 2.8.1923 gründeten radikal nationalistische Lüdenscheider die "Deutschvölkische Lesegemeinde" als "Stützpunkt" der verbotenen NSDAP in Preußen. Sie verstand sich besonders als Partei gegen das "internationale Finanzjudentum", gegen die "Schmach von Versailles" und gegen den Kommunismus. Die Konflikte der rechten, demokratischen und linken Parteien wurden von Extremisten radikalisiert, sodass die Polizei mehrfach auch mit blanken Waffen die Plätze und Straßen am Rathaus und vor dem Stadthaus in der Corneliusstraße räumte.
Die Kriegsschulden belasteten die Währung, die immer wertloser wurde. Am 30.11.1923 brach ein Streik der gesamten Arbeiterschaft aus, der neun Tage dau erte. Die Arbeiter forderten Vorkriegslöhne, die von den Arbeitgebern nicht gewährt wurden. Gleichzeitig erreichte die Inflation ihren Höhepunkt. Da das Geld stündlich an Wert verlor, wurden die Löhne an den Tagen vor der Währungsreform zweimal täglich statt einmal in der Woche ausgezahlt. Die Mengen des Papiergeldes für die Löhne waren so groß, dass sie nicht mehr in Taschen, sondern in Karren von der Bank zu den Betrieben gebracht wurden. Deshalb mussten Amt und Stadt in großen Mengen Notgeld drucken. Erspartes verlor seinen Wert. Sachgüter, Maschinen, Grund und Boden stiegen im Wert. Die Inflation schadete besonders den Kleinbürgern und vertiefte die Spaltung der Gesellschaft in Arme und Reiche.

Außerdem lastete eine Arbeitslosenquote von mehr als 10 % auf Deutschland und Lüdenscheid, das den Betroffenen Notstandsarbeiten anbot: Kanalisationsbau in der Südstr., Sauerfelder Str., Börsenstr., Staberger Str., Ludwigstr. u. a. 208 Lüdenscheider wanderten 1923 nach Brasilien aus, um ein besseres Leben zu beginnen.
Mit der Gründung der Kunstgemeinde 1921 sollte die Kulturarbeit in der Stadt weiter verbreitet und demokratischer werden. Das gelang teilweise. Einzelne soziale Milieus schufen sich ihre eigenen Kulturgruppen, z. B. die Kommunisten ihre Musikkapelle, um ih re Identität zu stärken. Arbeiter- und Bürgerkultur fanden nur teilweise Gemeinsamkeiten. Sie reichten nicht aus, die sozialpolitischen Gegensätze auf Dauer zu überbrücken.

   
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1924-1929: Die "Goldenen Zwanziger Jahre"

Bürgermeister: Dr. Wilhelm Jockusch

Die wirtschaftliche Entwicklung spiegelte sich im Gewerbesteueraufkommen der Stadt (in 1 000 Mark):
1925   1926   1927   1928   1929   1930   1931   1932
 469    548    564    538    657    679    438    313
Foto: Blick in eine mit Kopfsteinen gepflasterte Strasse. Rechts und links Häuser.
Die Wilhelmstrasse in den 20er Jahren.

 

Foto: Ein Haus. Davor ein alter Feuerwehrwagen und zwei lange Leitern.Aufschrift auf dem Haus: 'Städtische Volksbücherei und Lesehalle'
1900-1937 fand die Bücherei in dem aufgestockten Feuerwehrgebäude ihr Quartier. Als nach dem 10. Mai 1933 Bücher aussortiert und verbrannt wurden, half die Feuerwehr dabei.

 

In dieser Zeit wuchs hier das Volkseinkommen um jährlich ca. 8 %, weniger als in der Zeit der Nationalsozialisten. Wesentlich verbesserte sich der Bereich der Dienstleistungen, des Handels und der Infrastruktur. 1924 wurde den Gemeinden die Fürsorgepflicht vom Reich übertragen, besonders für Kriegsgeschädigte, Rentenempfänger und hilfsbedürftige Minderjährige. Ebenfalls trat das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz in Kraft. Nach dem Gesundheitsamt wurden nun das Unterstützungsamt mit den zwei Abteilungen Fürsorge und Kriegsgeschädigte und das Jugendamt gegründet.
3.000 RM erhielt 1925 die Bücherei und 4.000 RM die städtische Kapelle. Dafür musste sie vom Mai bis September wöchentlich zweimal ein Standkonzert spielen. Die erste Handelsschule für Jungen und die staatlich anerkannte Krankenpflegeschule im Krankenhaus wurden 1926 eröffnet. Dort konnte 1930 eine Kinderstation eingerichtet werden. Die Buslinie Lüdenscheid-Köln der Kraftverkehrsgesellschaft Wupper-Sieg in Zusammenarbeit mit der ein Jahr zuvor gegründeten Mark-Sauerland verbesserte 1926 die Verbindung zum Rheinland. Der neue Personenbahnhof in Brügge wurde 1927 eröffnet und zeigte dessen Bedeutung als Knotenpunkt zwischen Hagen, Meinerzhagen-Dieringhausen-Köln, Halver-Remscheid und Lüdenscheid. Dazu gehörte auch der Bau der evangelischen Kreuzkirche 1899 und der katholischen Paulus-Kirche 1926 in dem "Eisenbahnerort".

Foto: Ein kleines, zweistöckiges Haus mit umgebender Mauer. Davor einige Personen.
Nach der Erlöserkriche und dem Alten Rathaus war Haus Dicke das eindrucksvollste Gebäude des 19. Jahrhunderts. Es lag an dem Verkehrsknotenpunkt Sternplatz und wurde für den Straßenbau 1951 abgerissen.

 

Da die Arbeitslosenquote selten unter 10 % sank, mussten auch 1926 für mehr als 1.000 Lüdenscheider Notstandsarbeiten geschaffen werden. Dazu zählten die Kanalisation der Honseler-, Herder-, Schlittenbacher-, Peter- und Schlachthausstraße und der Bau der Wasser- und Gasleitungen in der Kluser- und Sauerfelder Str. Der Verwaltungsbericht beklagte, dass die Zahl der Alkoholkranken auf 158 stieg und die Volksküche in diesem Jahr 69.961 Mahlzeiten ausgeben musste. Trotzdem war die wirtschaftliche Lage etwas besser als in vielen Orten der Umgebung und so stieg die Einwohnerzahl in der Weimarer Zeit um 2.000.

Foto: Ein Mann mit einem stockähnlichem Gegenstand bedient eine ca. 4 Meter hohe Gaslaterne an einer Strasse. Zwei Kinder sehen zu.
Bis in die 60er Jahre gab es Gaslaternen, hier an der Wehberger Straße.

 

Das Arbeitsamt wurde 1916 eröffnet, und 1919 zur festen Einrichtung. Ab 1927 gab es hier das staatliche Arbeitslosengeld. Im Jahr 1926 öffnete mit dem Warenhaus Tietz der größte Neubau der Weimarer Zeit zwischen Sauerfeld und Sternplatz seine Türen. In Zusammenarbeit mit dem hiesigen Geschäftsmann Simon, dessen Haus dem Neubau weichen musste, kam eine neue Warenwelt nach Lüdenscheid. Warenhausketten waren seit der Jahrhundertwende ein großer Erfolg, weil viele große und kleine Konsumartikel hier zu günstigen Preisen angeboten wurden. Das belastete manche Fachhändler, die der Konkurrenz nicht gewachsen waren. Da die meisten Warenhäuser im Besitz jüdischer Unternehmer waren, kristallisierte sich um sie der wachsende Antisemitismus der Weimarer Zeit. Dabei wurde übersehen, dass zwei Drittel aller jüdischen Familien ärmer als die christlichen Familien in Deutschland waren und viele kleine jüdische Händler ebenfalls unter der Konkurrenz der Warenhäuser litten.

Mit der Fusion der Firmen Busch (ggr. 1891) und Gebr. Jaeger (ggr. 1892) zu den Vereinigten Elektrotechnischen Fabriken 1926 kamen auch die Lüdenscheider Unternehmer in den Sog der Zusammenschlüsse, die 1933 mit dem Anschluss der Lüdenscheider Metallwerke A. G. zur "Busch-Jaeger Lüdenscheid der Metallwerke Aktiengesellschaft" das größte Unternehmen am Ort bildeten, das durch seine Zugehörigkeit zum Quandt-Konzern (heute: BMW) für die Aufrüstung der Nationalsozialisten von großer Bedeutung war.

Das Kino wurde vor dem Ersten Weltkrieg bis zur Verbreitung des Fernsehens in den 60er Jahren zur neuen Erlebniswelt. 1907 hatte das erste Kino im Hotel zur Post sein Programm gestartet. Es hieß "Zentral-Theater" und zog 1910 in dAltenaer Str. (später: Stern-Theater, heutige Stelle des neuen Eingangs zum Sternzentrum). 1908 begann an der Wilhelmstr. 47 das "Apollo-Theater" seine Filmvorführungen. 1912 folgte das Lichtspielhaus an der Hochstr. 4 und 1919 das Metropoltheater, das später Schauburg und Capitol genannt wurde. Junge und alte Menschen ließen sich von den Stummfilmen, die erst ab 1930 langsam von Tonfilmen abgelöst wurden, gerne unterhalten.
Seit 1923 gab es die ersten Radios und dann die ersten Radiogeschäfte. Mit diesen Neuerungen begann das Zeitalter der elektronischen Medienwelt. Wie wichtig die Elektrotechnik für die Entwicklung der heimischen Industrie besonders seit der Gründung der Firma Kostal 1912 und seit dem Kriegsende geworden war, zeigt unten die Übersicht über die Lüdenscheider Arbeitnehmer aus dem Jahr 1927.

                                           Arbeitnehmer    in %    Betriebe
Metallhalbwerkzeuge, Gießerei                       440     3          3
Eisen-, Stahl- u. Metallwarenherstellung          7.277    60,9      214
Maschinen-, Apparate- u. Fahrzeugbau                284     2,4       14
Elektrotech. Industrie                            1.761    14,7       35
Baugewerbe                                          478     4,0       35
Handelsgewerbe                                      486     4,0       25
Sonstige Gewerbe                                  1.230    10,3      236
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1929-1933:   Die Weltwirtschaftskrise und die Zerstörung der Weimarer Republik/ Demokratie

Bürgermeister: Dr. Wilhelm Jockusch, Dr. Ludwig Schneider

Foto: Blick in eine Fabrikhalle. Frauen sitzen an langen Tischen und bedienen Handpressen.
So sah die Serienproduktion von Knöpfen und Schnallen der Firma Auffermann um 1933 aus.

 

Die gesellschaftliche, politische, kulturelle und wirtschaftliche Vielfalt wurde von immer mehr Menschen als Bedrohung und nicht als Bereicherung empfunden. Die Weltwirtschaftskrise im Anschluss an den Börsensturz in New York vom 24.10.1929 verstärkte die starke Verunsicherung und zerstörte das Vertrauen in die Demokratie.

Die Arbeitslosigkeit stieg in den drei Jahren von 10 % auf über 30 % und stürzte mehr als ein Drittel der Bevölkerung in materielle und mentale Not. Die Trostlosigkeit beschrieb der Rektor der Westschule in seiner Chronik zu Beginn des Schuljahrs 1932/33: Die meisten Fabriken stehen leer; die Jugend wird der Arbeit entwöhnt; die Verarmung zeigt sich in der Klei dung und dem Aussehen; der Dachboden der Schule wird von der Malerinnung genutzt, die hier arbeitslose Jugendliche ausbildet; die Firma Tietz (wegen Antisemitismus ab 1933 Kaufhof genannt) spendet Lebensmittel für die kostenlose Speisung bedürftiger Schüler in der Schulküche; ab Oktober wird der Kochunterricht aus Kostengründen eingestellt.

Auch wenn die Stadt mehrere Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen/ Notstandsarbeiten schuf, waren viele Lüdenscheider der Meinung, dass nur eine radikale Veränderung noch Anlass zur Hoffnung sei. Die bedrückende Lage spiegelt sich auch in dem sonst sachlichen Verwaltungsbericht für 1932/33:

"Ein lähmender Alpdruck lastete auf dem öffentlichen und privaten Leben unseres schwer geprüften Vaterlandes. Wenn auch die Not für unsere Stadt dank der Vielseitigkeit nicht die Auswirkungen hatte, wie in den meisten anderen Gemeinden, so wurde die Finanzlage (...) ernstlich bedroht."

Das Vertrauen in die Demokratie ging verloren und Fehlschlüsse führten zu deren Verurteilung durch die mehrheitlich von Konservativen gebildete erste Regierung Hitler in ihrer Erklärung vom 1.2.1933:

"Über 14 Jahre sind vergangen seit dem unseligen Tag, da von inneren und äußeren Versprechungen verblendet, das deutsche Volk der höchsten Güter unserer Vergangenheit, des Reiches, seiner Ehre und seiner Freiheit vergaß und dabei alles verlor. Seit diesem Tag des Verrates (gemeint ist die Ausrufung der Weimarer Demokratie am 9.11.1919) hat der Allmächtige unserem Volk seinen Segen entzogen. Zwietracht und Haß hielten Einzug
...
Das Elend unseres Volkes aber ist entsetzlich! Dem arbeitslos gewordenen, hungern den Millionenproletariat der Industrie folgt die Verelendung des gesamten Mittel- und Handwerkstandes ... 14 Jahre Marxismus haben Deutschland ruiniert."
Foto: Ein Wahlplakat. Aufschrift: 'Gegen Papen, Hitler, Thälmann - Liste 2 Sozialdemokraten'
Das SPD-Plakat zeigt die polarisierte Situation.

 

Wie in den meisten Städten Deutschlands standen sich auch in Lüdenscheid Links- und Rechtsradikale gegenüber. Trotz der starken kommunistischen Fraktion, zu der ca. ein Fünftel der Einwohner zählte, dominierten die Übergriffe der Nationalsozialisten und vieler SA-Mitglieder, die immer wieder Schusswaffen einsetzten und Schlägereien begannen. Zahlreiche nationalsozialistische Aktionen und Informationen gingen vom Realgymnasium aus. So wurde trotz des Gebots der Neutralität zu einer der fünf Wahlen 1932 die Hakenkreuzfahne auf dem Dach der Schule am Staberg gehisst. Dieser Dauerwahlkampf in der Zeit, als es 3.285 Arbeitslose (1.7.1932) gab, spiegelte die Zerrissenheit und Kompromisslosigkeit wider, die in dem Ruf nach dem starken Führer endeten. Die Achtung der Menschen vor der Meinung anderer ging verloren und eigene Interessen wurden rücksichtslos verfolgt. Darin übertrumpften sich besonders die Links- und Rechtsradikalen. Walter Borlinghaus, der Redakteur des seit 1931 veröffentlichen nationalsozialistischen "Lüdenscheider Beobachters" und spätere mächtige Kreisleiter der NSDAP, verleumdete vielfach die Politik der Stadt und sozialdemokratische sowie kommunistische Ratsherren. Deshalb wurde er mehrfach ermahnt und gerichtlich bestraft.

Foto: Eine Musikkapelle. Schriftzug am unteren Rand des Fotos: 'Fanfarenkapelle des R.-F.-B. "Ortsgruppe Lüdenscheid"'
Die Blaskapelle der ca. 20% kommunistischen Wähler prägte auch das Leben in Lüdenscheid.

 

Teilweise fanden die Ziele der Nationalsozialisten die Zustimmung des Lüdenscheider Generalanzeigers. Dessen Chef schrieb am 29. und 30. August 1930, dass "der Zusammenschluß aller Deutschen zu einem Groß-Deutschland", der "Kampf gegen die Verträge von Versailles" und die "Ablehnung des Klassenkampfes" zu unterstützen seien. Auch der Antisemitismus war so verbreitet, dass schon 1930 spielende Kinder "Juda verrecke" und "Heil Hitler" durch die Straßen Lüdenscheids riefen (Lüd. Generalanzeiger 9.9.1930). Als die preußische Regierung in Berlin das Verbot aller militärähnlichen Einheiten der Nationalsozialisten im April beschloss, kündigte eine hiesige Abzeichenfirma einem ihrer Mitarbeiter mit der Begründung, dass das SA-Verbot zum drastischen Auftragsrückgang führe. Das Hissen von Fahnen auf den Fabrikschornsteinen entwickelte sich zu einem Wettkampf der verschiedenen Parteien. Besonders der Kamin der Firma Berg war für das Flaggezeigen verschiedener politischer Lager wegen seiner prominenten Lage zwischen dem Reichsbahnhof und dem Bahnhof der Kleinbahn beliebt. Am 23.6.1932 wurde an der Horringhauser Str. von Anhängern der KPD und der NSPAD aufeinander geschossen. Am gleichen Tag schossen Nationalsozialisten in der Knapper Str. auf Kommunisten und verletzten einen schwer. Frei nach Brecht und Weill, der in Lüdenscheid 1920 ein Jahr lang das Theater geleitet hatte, sangen Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterjugend mit der Melodie des Haifischsongs aus der Dreigroschenoper: "Die SA, die hat Moneten, und ein Messer hat sie auch, - damit sticht sie ihrem Gegner Argumente in den Bauch." (Egon Weigert, Protokoll vom 24.3.1990)

Sitzverteilung im Stadtrat            1919    1924    1929 
SPD/USPD                                23      10     13 
DDP                                      9       -      -  
Zentrum                                  3       2      2 
KPD                                              5      4  
Soziale IG                                              1 
Offen & frei                                     2       
Lüd. Volksg.                                    16      
Ev. Volks. Heimstätten                   1           
Haus-/Woh.-Schutz                                       3 
DVP                                      6

   

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Lüdenscheider Zeitbilder
Impressum/ Angaben gemäß § 5 TMG/ V.i.S.d.P.:
Lüdenscheider Zeitbilder, Lindenau 16, 58511 Lüdenscheid
Vertreten durch: Matthias Wagner, Telefon 02351 25138, info (at) lüdenscheider-zeitbilder (.) de
Gestaltung: Martin Sander/ Hans-Werner Hoppe